DIE BADEWANNE

Seit mehreren Stunden laufen sie nun. 
Sie laufen ohne Ziel, so kommt es ihr vor. 
Nur um des Laufens willen. Nur um des Schindens willen. 
Die Kinder können schon lange nicht mehr, stolpern halb schlafend 
voran, werden ein Stück getragen. 
Aber auch die Frauen sind am Ende ihrer Kräfte. 
Völlig ungeeignet ist auch ihre Kleidung und ihr Schuhwerk für 
solch einen Marsch. 
Ganz anders die Männer, die sie bewachen, die sie treiben, voran, 
voran, ohne Ziel. 
Sie halten die Hunde kurz und das Gewehr im Anschlag. 
Es erscheint ihr alles wie ein wirrer Traum. 
Sie hatte davon gehört, dass sie Menschen aus den Häusern holen, 
ohne Vorwarnung, ohne Zeit für Abschied oder irgendwas. 
Aber dass ihr das passiert, ihr und den Kindern. 
Die zwei Mädchen haben schon vor einer ganzen Weile aufgehört zu 
fragen: "Wohin? warum? Wie lange noch?". 
"Ich weiß es nicht. Ich versteh es auch nicht." war alles, was sie 
sagen konnte. 
Warum treiben sie Mütter mit ihren Kindern durch den Wald? 
Sie hat das Gefühl, ihre Kinder schützen zu müssen, irgendetwas 
tun zu müssen. Aber sie hat keine Kraft und Angst lähmt sie alle. 
Es hat etwas Irrsinniges an sich, in diesen Stadtkostümen, bewacht 
von Soldaten durch einen Frühlingswald getrieben zu werden, wie 
eine Herde Schafe. 

Und die Vögel zwitschern und die Sonne scheint als würde dies alles 
nicht geschehen.  

Sie gelangen auf eine Lichtung. Die Soldaten brüllen Worte, die 
sie nicht versteht, aber deren Sinn sie errät. 
Sie scheinen angekommen zu sein. Oder ist dies nur eine Rast? 
Sie ist jedenfalls froh über diese Pause und lässt sich wie die 
anderen auf die Wiese fallen. Die Mädchen drängen sich eng an sie 
heran.

Auf einmal kommt an einem Ende der Gruppe Geschrei auf. 
Die Soldaten reissen die todmüden Kinder aus den Armen der Mütter. 
Die Lichtung, eben noch in ihrer Stille nur vom Vogelgesang gestört,
ist nun erfüllt von Schreien und Weinen. Sie werden in zwei Gruppen 
geordnet. Auf der einen Seite die Kinder, auf der anderen die Frauen,
getrennt durch einen Zwischenraum. Die Soldaten bilden einen Kreis 
um die Kinder. 
Ein paar stehen bei den Frauen, dass sie nicht fliehen. Aber wie kann
man fliehen und die Kinder zurücklassen? 
Angstvoll warten sie auf das, was jetzt geschehen wird. 
Werden sie getrennt weiter marschieren? Bringen sie die Kinder 
woanders hin und wenn ja, wohin? 
Dahinein hören sie das Durchladen eines Gewehrs und dann noch das, 
eines zweiten. Sie schiessen zur selben Zeit und ein etwa elfjähriger
Junge und seine wohl fünfjährige Schwester brechen zusammen. 
Kein Ton ist zu hören. Jetzt schreit keiner mehr, weint keiner. 
Alle stehen wie erstarrt da. 
Die nächsten zwei Kinder sinken getroffen zu Boden. Es scheint alles
in Zeitlupe zu geschehen und doch geht es viel zu schnell. Sie töten
mit System, der Reihe nach, immer zwei Kinder. 
Die Mütter können sehen, wann ihre Kinder an der Reihe sein werden.

Und keiner tut etwas.

Keines der Kinder weint. Sie sehen mit aufgerissenen Augen die Toten
an und ihre Mütter. So sterben sie. Die Augen weit aufgerissen und 
voller Angst, nicht verstehend, was hier geschieht und warum keiner 
eingreift.

Schuss um Schuss um Schuss.

Dann ist da nur noch ein Haufen von kleinen Körpern.

In die Soldaten, die bisher mit leerem Blick dabei gestanden haben, 
kommt Leben. 
Sie schreien und schlagen auf die Frauen ein und treiben sie zurück 
in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Eine Frau reißt sich los
und will zu ihrem toten Kind. Doch noch ehe sie den Leichenhaufen 
erreicht, wird sie niedergeschossen. Ein paar Soldaten bleiben bei 
den toten Kindern zurück. Sie kann den Blick nicht abwenden von den 
kleinen verrenkten Körpern, versucht in diesem Gewirr etwas
Vertrautes zu entdecken. Doch unter Schlägen stolpert sie voran, der
angeschrieene Schrei würgt ihr die Kehle. Sie fühlt nicht, denkt 
nicht. Sie hockt mit geschlossenen Augen und zugehaltenen Ohren in 
einer Kammer ihres Inneren, wo dies alles nicht geschehen ist, wo 
nichts geschieht. Vom Anfang der Kolonne dringt ein Schrei zu ihr. 
Ein Klageruf, endlich, so laut, so schrill, so voll von Wahnsinn und
ohne Ende. Die Soldaten schlagen mit ihren Gewehren auf die 
Schreiende ein. Die Frau sinkt zu Boden, bietet keinen Widerstand, 
sucht keinen Schutz. Sie ist nur noch dieser Schrei aus weit 
aufgerissenem Mund. Er gellt in ihrer aller Ohren dieser Klageruf ums
tote Kind. Mit gehaltenem Schritt geht einer der Soldaten, die 
Kolonne entlang zur Frau. Dort bleibt er stehen und schaut sie an. 
Kein Gefühl spiegelt sich in seinem Blick. Ganz ruhig, mit geführter
Bewegung und doch wie nebenher entsichert er seine Walther, hält sie
der immer noch Schreienden an den Kopf und schießt. 
Er geht einen Schritt zur Seite, damit die Frau nicht auf seine 
Schuhe fällt.

Von ihrem Platz in der Mitte der Kolonne hat sie alles mit angesehen,
ohne es wirklich zu sehen. Nicht der Schrei, nicht der Schuss, aber 
dieser Schritt zur Seite lässt es aus ihr herausbrechen. 
Sie würgt und kotzt und neben ihr blüht ein Strauch im reinsten Weiß.
  
Irgendwann kommen sie bei den beiden Lastwagen an. Nun reicht einer 
aus, um sie in die Stadt zu fahren. Beim Bahnhof werden sie 
hinausgetrieben und treffen auf hunderte andere, die schreckensbleich
in dumpfer Masse in Zugwaggons gestossen werden. Die Türen werden 
geschlossen und nichts geschieht. Und in diesem Nichts, in der 
Dunkelheit, eingezwängt und gehalten von fremden Körpern, lässt sie 
den Schmerz zu, denkt sie den undenkbaren Gedanken: Sie sind tot. 
Nie wieder werden sie ihre Ärmchen um ihren Hals legen, nie wieder 
ihre warmen Körper an sie drücken. Ihre Händchen, die so oft in 
vertrauter Selbstverständlichkeit in ihre Hand schlüpften, sind nur 
noch Teile einer leblosen Masse von kalten Körpern. Wie kann man 
diesen Schmerz in sich spüren und dennoch weiterleben, weiter atmen.
Sie weint, ohne das ein Ton ihrer Kehle entschlüpft.  

Sie fahren drei Tage und Nächte. Unbeschreibbar die Qual, der Durst,
der Hunger und der Gestank der Fäkalien und Toten. In der dritten 
Nacht hat sie es geschafft, sich zu dem kleinen vergitterten Fenster
vorzuschieben. Sie reckt den Hals um etwas von der frischen Luft 
einatmen zu können. Als der Zug hält, versucht sie sich hochzuziehen,
um zu sehen, wo sie sind. Sie halten an einem Bahnsteig. Auf dem 
Schild steht Wroclaw. Es sagt ihr nichts. Ein Ort im Irgendwo. 
Noch einmal fährt der Zug an, bevor er seine Fracht in der 
Morgendämmerung an den Rand einer Barackenstadt wirft.

Sie liegt auf dem Boden der Zelle, mehr tot als lebendig. Aber ist 
das nicht schon all die Monate so? Sie weiß es nicht. Hier gibt es 
kein Erinnern, keine Vorstellung von Zukunft. In dieser Hölle gibt 
es nur den Augenblick, in dem du überlebst oder stirbst. 
Oft in diesen unendlichen Tagen und Nächten will sie sterben. 
Wenn sie vor Hunger nicht schlafen kann und ihr Magen sich anfühlt, 
als verdaue er sich selbst, stellt sie sich die Erleichterung vor, 
die der stromgeladene Stacheldrahtzaun ihr schenken könnte. 
Oft will sie sterben, aber stärker ist dieser Instinkt, am Leben zu 
bleiben. 
Nichts menschliches liegt mehr darin. 
Nur überleben, all dies überleben, ohne ein "Wozu?" oder "Warum?".

Und dann gab es wieder einen Sinn, Menschen mit einem Plan. 
Etwas tun, mehr als nur das tägliche Brot erkämpfen, mehr als sich 
nur zu ducken in der Masse, um nicht aufzufallen. 
Der Versuch, diesem Irrsinn etwas entgegenzusetzen. 
Der Glaube daran, dass es draussen noch so etwas wie Alltag gibt und
auch für sie wieder geben kann. Dass da Menschen sind, die von dieser
Hölle nichts wissen, aber die davon hören müssen. 
Gefährliche Hoffnung. Gefährliches Vertrauen in Menschen, die ihr 
Menschsein vergessen. 

Einer hielt es nicht aus und konnte der Versuchung, für ein paar Tage
genug Essen zu haben, nicht widerstehen. Essen haben heißt überleben,
auch wenn dieses Leben mit Leichen erkauft wird.

Jetzt liegt sie hier in dieser Zelle, die Finger blutig, das Gesicht
eine Masse aufgeschlagenen Fleischs, jeder Atemzug eine Qual. 
Aber sie hat geschwiegen. 
Das letzte bisschen Würde, das sie sich erhalten kann, ihnen nicht 
sagen, was sie wissen wollen, nicht helfen, sich nicht hineinziehen 
lassen, sich nicht verschlingen lassen von ihrer Todesmaschinerie. 
Aber sie hat Angst vor dem Schmerz, solch wahnsinnige Angst.

Sie holen sie auch diese Nacht. Aber sie schleppen sie nicht den 
vertrauten Gang entlang ins Folterzimmer, sondern hinab in den 
Keller. 
Der Raum ist dunkel gefliest und leer bis auf eine Badewanne, die im
Lichtkranz der einzigen Lampe in der Mitte des Raumes steht. Es sind
mehrere Männer im Raum, fünf oder sechs, nicht nur die üblichen drei.
Sie haben getrunken, dass spürt sie. Auch wenn sie so schwach ist, 
dass sie sich nicht auf den Beinen halten kann, sind ihre Sinne jetzt
hellwach. Sie darf sich nicht verunsichern lassen durch diese 
Unterbrechung der Routine ihrer Folter. Sie darf nicht zulassen, dass
die Angst sie überrollt, denn wie leicht, wie leicht könnten ihr dann
die verlangten Namen entschlüpfen. 
Was haben sie sich diesmal ausgedacht? Welches perverse Spiel ist 
diesmal in ihren Köpfen und Schwänzen entstanden? Die Männer, die sie
gerade noch hielten, lassen sie los und sie fällt auf die kalten 
Fliesen. Sie hebt den Kopf, sie muss wach bleiben, damit sie stumm 
bleiben kann. Kaum erfasst ihr Hirn den Sinn dessen, was sie sieht. 
Die Männer haben sich um die Badewanne gestellt und urinieren hinein.
Sie reißen Witze und lachen und dann, als sie fertig sind, holen sie
sie, zerren und stoßen sie in den Lichtkreis der Lampe. Sie kann in 
die Wanne schauen und sieht, dass sie zu dreiviertel gefüllt ist mit
Kot und Urin. 

Kurz flackert die Frage in ihr auf, wie sie das wohl 
hierher gebracht haben. 
Kurz sieht sie sich in einer anderen Zeit, in einem schönen Kleid, 
geschminkt und die Haare zurechtgemacht, in einem Cafe, seichte 
Klaviermusik dringt an ihr Ohr. 
Es zerreißt ihr fast den Verstand.

Einer packt sie an den Haaren und hält ihren Kopf knapp über die 
Oberfläche der stinkenden Brühe. "Nun, wirst du uns die Namen sagen?"
Sie schweigt und er stößt ihren Kopf in die Scheisse hinein. Sie ist
so voller Ekel, sie presst die Lippen ganz fest zusammen, der Panik 
nah. Er lässt sie nicht hochkommen, sie hat das Gefühl, gleich 
müssten ihre Lungen platzen. "Nicht den Mund öffnen, nicht atmen 
wollen." hämmert es in ihrem Kopf. Da wird sie hochgerissen. "Sag uns
die Namen!" brüllt es neben ihr. Sie kann nicht mehr. Ihr Körper 
beginnt zu zittern, sie würgt und spukt. Alles dreht sich, nur ganz 
fest dieser Gedanke: "Ich darf nicht sprechen:" Daran klammert sie 
sich, es ist das einzige, was ihr in dieser Demütigung bleibt. 
Nochmals wird sie untergestukt, angebrüllt, doch sie bleibt stumm. 
Immer wieder der gleiche Ablauf - dann hören sie auf. Sie lassen sie
vor der Wanne liegen und verlassen den Keller. Trotz der Schmerzen 
und des Gestanks fällt sie in einen komaartigen Schlaf, dankbar, dass
es vorbei ist. 
Doch nur kurz, dann wird sie wieder hochgerissen, aus dem Keller 
hinaus, die Treppen hochgezerrt, nach Draussen. 
Im Osten zeigt sich das erste Morgenrot. Sie kommt ihr so unwirklich
vor diese zarte Schönheit. Sie kippen einen Eimer Wasser über sie und
dann schleifen sie sie um den Block. Wohin bringen sie sie, was denn
noch in dieser Nacht? Da sieht sie die Mauer und weiß, was ihr noch 
bevorsteht und auf eine Art ist sie dankbar, dass nun alles ein Ende
hat.

Die Männer lassen sie los und unter Schmerzen schafft sie es, allein
zu stehen. Einer stellt sich hinter sie. "Geh! Dreh dich nicht um! 
Geh zur Mauer!", fast zärtlich sagt er es zu ihr. Und sie geht. 
Jeder Schritt bringt sie mehr zu sich. Sie hört das Entsichern der 
Pistole und sie erwartet den Augenblick, in dem die Kugel sie trifft.
Aber nichts passiert, nur ihr Gehen, Schritt um Schritt. Fast hat sie
die Mauer erreicht, ganz ruhig geht sie die letzten Meter, ganz bei 
sich ist sie. Dann hört sie den Schuss. Sie spürt den Biss eines Tier
es zwischen ihren Schulterblättern und fällt. Das Morgenrot des 
kommenden Tages ist das Letzte, was sich in ihren Augen spiegelt. 
Dann werden sie leer. Dann ist auch das vorbei.

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