Demokratische Teilhabe in der Kita

In einer Kindergartengruppe mit ca. 20 Kindern zwischen 3 und 7 Jahren sind normalerweise die Erzieher die Hauptakteure und somit der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Das mag erstmal verwunderlich klingen, da doch die Kinder den Mittelpunkt bilden müssten, aber letztendlich sind es die Erzieher, die alles tun und machen:

  • sie treffen Entscheidungen
  • sie lösen Konflikte
  • sie helfen, wenn jemand Hilfe braucht
  • sie entscheiden über Recht und Unrecht
  • sie achten auf die Einhaltung von Regeln
  • sie richten und strafen, wenn Regeln nicht eingehalten werden
  • sie kommunizieren mit anderen Erziehern und Eltern
  • sie leiten den Morgenkreis und etwaige Angebote

Die Kinder sind der Grund, warum der Kindergarten existiert. Letztendlich ist der Kindergarten ein Aufbewahrungsort für Kinder, deren Euern arbeiten müssen. Aus diesem Grund wurde er in die Welt gerufen. Nach und nach kam dann der Bildungsanspruch hinzu und mittlerweile wird es beinah als Vernachlässigung angesehen bzw. gilt als asozial und entwicklungsgefährdend, wenn ein Kind die Kita nicht regelmäßig besucht. Ganz abgesehen davon, dass der Kindergarten dafür sorgt, dass die Spielplätze und Strassen morgens fast kinderfrei (Kinder über 3 Jahre) sind und soziale alltägliche Kontakte für Kinder oft nur in der Kita möglich sind. Dennoch bleibt der Kindergarten ein künstlich geschaffener Ort des Aufwachsen. Natürlich wäre es, zu Hause zu sein und auf der Strasse zu spielen. Und Erzieher gibt es, weil es eben Menschen braucht, die sich um die Kinder kümmern, während deren Eltern sich um andere Sachen kümmern. Aus der Not heraus, nicht aus Freiheit, treffen wir jeden Tag für bis zu 8 / 9 h Stunden aufeinander. 20 Kinder und 2 bis 3 Erzieher auf ein paar Quadratmetern während der Alltag mit Essen, Schlafen, Spielen, Streiten, auf Toilette gehen etc. seinen Lauf nimmt. Es ist aber insoweit ein Freiraum, dass die alten Strukturen wie z.B: Familie hier nicht greifen. Es sind nicht meine Kinder und ich bin nicht ihre Mama, Tante, Schwester oder sonst was. Das eröffnet wiederum Freiheiten im Umgang miteinander.

Meines Erachtens benötigen Kinder im Alter zwischen 3 und 7 Jahren eigentlich „nur“ genügend Zeit, Raum und Anregung zum Spielen und nachahmungswürdige Erwachsene um sich her. Mehr nicht. Alles andere geschieht während des Alltags.

Die Aufgabe der Erwachsenen im Zusammenhang mit Kindern ist meiner Meinung nach, sich überflüssig zu machen.

Nicht der Erzieher sollte Mittelpunkt und Hauptakteur sein, sondern die Menschengruppe, die diese Kitagruppe bildet. Der Erzieher ist ein Teil von vielen und bringt sich ein, mit dem was er einbringen kann, so wie es auch jedes Kind tut.

Natürlich ist er erstmal der Allwissende, Allmächtige und zwar genau so lang, bis er Wissen und Macht abgibt und überträgt. Es geht hier nicht darum, sich einen Lenz zu machen und auf einmal nichts mehr zu tun, es muss eine Übergabe an die Kinder stattfindet, soll etwas Neues entstehen. Die Kinder müssen die Möglichkeit bekommen, teilhaben zu dürfen. In „meiner“ Gruppe arbeiten wir daran nun schon über ein Jahr und mittlerweile ist deutlich, dass sich etwas dauerhaft verändert hat.

Aber wie geht man da nun vor? Man beginnt mit einzelnen kleinen Momenten im Tagesverlauf und arbeitet sich durch den Tag durch. Immer sich selbst hinterfragend, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten oder noch bestehenden Automatismen und Einseitigkeiten. Es gehört viel Beobachtung dazu und viel Lauschen.

Ich möchte heute von einer dieser Situationen berichten, der mit der wir auch begonnen haben und des Weiteren in folgenden Beiträgen noch andere Situationen beleuchten.

Situation: Ein Kind verletzt sich im Spiel bzw. weint.

Der Ursprungszustand, den ich bisher immer und ausschließlich in Kindergruppen erlebt habe ist der, dass sofort alle Blicke zum Erzieher hingehen oder er sofort gerufen wird „Komm mal, Katja weint!“. Der Erzieher und so auch ich kommt dann gleich angeprescht, erfasst die Situation und handelt als der Retter des Kindes. Die Kinder gehen weiter ihrem Tagwerk nach.

1. Schritt: Der Erzieher hört das Kind weinen oder die Kinder rufen und schätzt die Situation aus der Ferne ein. Sehr, sehr selten ist die Situation derart, dass der Erzieher sofort handeln muss. Meist sind es Bagatellverletzungen, die nach 10min. wieder völlig vergessen ist. Hat das Kind sich nun also nicht gerade beide Beine gebrochen oder blutet wie irre, kann man es folgendermaßen ansprechen: „Wenn du meine Hilfe brauchst, komm her. Ich bin hier, ich kann dich trösten, dir helfen. Wenn du nicht kommen kannst, sag mir Bescheid, dann komme ich.“ Kinder sind sehr flexibel und meist praktisch veranlagt. Nach einigen Malen selbst oder am anderen erlebt, wird sich das als das neue Normale einspielen. Weint ein Kind nun, dann geht der Blick schon nicht mehr nur zum Erzieher sondern auch zum betroffenem Kind als Mitakteur. Ein Teil der Macht wurde abgegeben an das Kind. Dieses kann und muss quasi sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Phlegmatische und melancholisch veranlagte Kinder werden da etwas zu leiden haben, lernen aber auch diese Tiefs zu überwinden und der Gefahr immer „Opfer“ zu sein, etwas entgegenzustellen. Cholerische veranlagte Kinder werden wütend werden, aber wenn sie erleben, dass dies nichts an der liebevoll konsequenten Haltung des Erziehers ändert, werden sie sich in ihr Schicksal fügen. Alle werden dadurch selbsttätiger, übernehmen für sich Verantwortung und stehen für sich ein.

2. Schritt: Kennt ihr solche Situationen, wenn auf der Strasse ein Unfall passier und ihr hofft, das irgendjemand anderes sich drum kümmert, weil ihr selbst keine Zeit, Lust, Kraft etc. habt. Der erste Impuls ist: Schnell weg und so tun, als hätte man es nicht gesehen. Dann setzt das Gewissen ein: Man muss ja, man sollte ja, ich weiß ja selber. Sieht man dann jemand 110 wählen und sich kümmern, ist da Erleichterung. Zumindest geht es mir so und ich würde mich aber durchaus als sozialen menschen beurteilen. Es ist aber nicht in der Gewohnheit drin, zu helfen. Es ist ein Alt, der Überwindung kostet und wenn auch nur kurz. Meines Erachtens liegt der Ursprung dessen in der Erziehung im Kindesalter. Wenn wir uns unsere eigenen Kinder als Erwachsene vorstellen, wollen wir glaube ich alle, hilfsbereite, tatkräftige Menschen vor uns sehen. Aber wie kommt man dahin? Ich habe nach dem gelungenen ersten Schritt Folgendes versucht: Ein Kind weint, weil es sich wehgetan hat. Es ist alles im Rahmen, keine schlimme Verletzung oder so. Ich komme hochdramatisch mit fragend empor gehobenen Händen in den Raum und frage in einer Mischung aus Entsetzen und Verblüffung und schone twas lauter: „Ja warum tut denn keiner was? Da weint jemand und ihr steht nur rum? Clara, deine Freundin weint und du hilfst ihr nicht, was ist los?“ Meist kann man direkt mit zuschauen, wie der Groschen fällt und sich Blick und Haltung der Kinder ändern und sie auf einmal vom Zuschauer zum Handelnden werden.Dann breitet sich meist eine gewisse Hilflosigkeit aus. Jetzt ist es an der Zeit, sein Wissen zu teilen. „Weißt du was du tu kannst?“ Kopfschütteln. „Weißt du denn, was dir helfen würde (an den Weinenden)?“ Kopfschütteln. „Also ich würde (Stimme etwas lauter werden lassen, damit es viele Kinder hören) ein Kühlpack holen, wenn du eines bräuchtest.“ Weinendes Kind nickt (immer, denn Kühlpack ist toll) und ein Kind rennt sofort los, glücklich helfen zu können. „Und dann würde ich dich trösten, vielleicht ein bißchen streicheln und pusten, da wo es wehtut, wenn du das magst.“ Weinendes Kind nickt und ich streichle, genauso wie Clara. „Und dann würde ich dir anbieten dich auf die Muschelecke zu legen und vielleicht joch eine Decke und ein Buch dazu?“ Kind nickt und genießt inzwischen sichtlich, dass sich alle so kümmern. Dies wiederholt man ab da in jeder sich bietenden Situation und ganz schnell wird das Wissen von den Kindern verinnerlicht und umgesetzt. Zu Beginn haben sich daraus ganze stundenlang anhaltende Spielsequenzen entwickelt, in welcher der Arztkoffer auf einmal eine große Rolle spielte.

Der Blick der Kinder geht bei Bagatellverletzungen fast nie mehr zu uns. Wir sind überflüssig geworden. Die Kinder schaffen es allein, solch eine Situation zu lösen. Sie haben den Freiraum erhalten, indem der Erzieher ein Schritt zurück getreten ist und sie haben von ihm das Wissen erhalten, welches Verhalten in solch einer Situation adäquat ist. Natürlich gibt es immer noch Momente oder Kinder, bei denen alle weiter spielen, während ein weinendes Kind daneben sitzt. Aber dann hebe ich einfach wieder Hände und Stimme und schon erinnern sie sich. Die Kinder übernehmen Verantwortung für sich selbst und ihre Gruppe. Die Gruppe hilft dem einzelnen Kind. Der Erzieher wirkt im Hintergrund als letzte Sicherheit. Die Kinder verinnerlichen: „Wenn einer Hilfe braucht, helfe ich! So ist das.“. Ganz schwierig finde ich übrigens den Satz: „Na wenn du dir wehgetan hast, möchtest du doch auch, dass dir geholfen wird.“ Ich glaube, dass fördert nur eine Art des Egoismus, nicht die sozialen Fähigkeiten. Der Satz ist nur insofern sinnig, in denen er eigentlich das bedeutet: „Wenn du in dich hineinhorchst, was würdest du dann in sich ein Situation dir vom anderen wünschen? Vielleicht ist es genau das, was der andere braucht.“ Das fördert dann die Empathie. Meist macht es der Tonfall und die Intension des Erwachsenen dahinter den Unterschied.

Soviel zu dieser Situation, ich hoffe, es ist deutlich geworden, was ich meine und in wie weit dies die Grundlagen für eine demokratische Teilhabe sind. Meist wird damit „nur“ etwas verbunden, was Entscheidung etc. in sich birgt. Dies gehört auch dazu, ist aber meines Erachtens nur die äußere Seite. Diese erfüllt sich fast wie von selbst, wenn als Grundgedanke der da ist: „Der Erwachsene macht sich überflüssig und räumt den Kind in jeder Situation die Freiheit ein und gibt ihm das Wissen, selbst tätig zu werden.“

In diesem Sinne… bis zum nächsten Mittwoch, wenn ich einen anderen Umgang mit Streitsituationen schildern werde.


4 Gedanken zu “Demokratische Teilhabe in der Kita

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