Thornton Wilder: Die Brücke von San Luis Rey

„Freitag, den 20. Juli 1714, um die Mittagsstunde riß die schönste Brücke in ganz Peru und stürzte fünf Reisende hinunter in den Abgrund. Die Brücke lag im Zuge der Straße von Lima nach Cuzco und wurde täglich von Hunderten Menschen begangen. Die Inkas hatten sie vor mehr als einem Jahrhundert aus Weidenzweigen geflochten, und jeden Fremden führte man hin, sie ihm zu zeigen: eine bloße Leiter aus schmalen Latten mit Geländern aus getrockneten Ranken, so schwang sie sich über die Schlucht.

(…)

Die Brücke schien zu den Dingen zu gehören, die ewig bestehn; es war undenkbar, daß sie je reißen könnte, und kaum hörte ein Peruaner von dem Unglück, bekreuzigte er sich und rechnete im Geist nach, vor wie kurzer Zeit er selbst über die Brücke geschritten war und wie bald er sie wieder zu benützen gedacht hatte.

(…)

Alle waren tief erschüttert, aber nur ein einziger wurde zum Handeln bewogen, und das war Bruder Juniper. Durch eine so außerordentliche Verkettung von Zufällen, daß man beinahe das Walten einer Absicht vermuten könnte, weilte dieser rothaarige Franziskaner aus Norditalien gerade damals in Peru, um die Indos zu bekehren, und wurde Zeuge des Unglücks.

(…)

Jeder andere hätte sich mit heimlicher Freude gesagt: „Fünf Minuten später, und auch ich …!“ Aber es war nicht dieser Gedanke, der Bruder Juniper ergriff. „Warum geschah das just diesen fünfen?“ fragte er sich. Wenn es überhaupt einen Plan im Weltall gab, wenn dem menschlichen Dasein irgendein Sinn innewohnte, mußte er sich, wenn auch noch so geheimnisvoll verborgen, sicherlich in diesen fünf so jäh angeschnittenen Lebensläufen entdecken lassen. Entweder leben wir durch Zufall und sterben durch Zufall, oder wir leben nach einem Plan und Sterben nach einem Plan. Und in diesem Augenblick faßte Bruder Juniper den Entschluß, die geheime Lebensgeschichte der fünf Menschen, die da vor seinen Augen in die Tiefe stürzten, zu erforschen und den Grund ihres jähen so Dahingerafftwerdens zu entdecken.“


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