von Jenny Erpenbeck
„Was fängt er jetzt an mit dem kopf? Mit den Gedanken, die immer weiter denken in seinem Kopf?“
„Ebensowenig kann er verstehen, dass der Abschied von ihm für die andern Teil eines Alltags ist, für allein aber tatsächlich ein Ende.“
„Der See, der da jetzt vor ihm liegt und glänzt, wusste, scheint ihm, immer schon mehr als er, dessen Beruf doch das Nachdenken ist. (…) Für den See ist es einerlei, ob ein Fisch in ihm zerfällt oder ein Mensch.“
„Wenn es tatsächlich der durch ihn gestiftete Sinn ist, der seinen Haushalt, von der Zahnbürste bis hin zum gotischen Kruzifix, das an der Wand hängt, in ein Universum verwandelt, stellt sich sofort die nächste grundlegende Frage: Hat Sinn eine Masse?“
„Für alles gib es eine ideale Form, für die profanen Dinge des Lebens ebenso wie für Arbeit und Kunst.“
„Nur er selbst kann sich jetzt noch, wenn ihm etwas gelingt oder er etwas verstanden hat, darüber freuen. Er freut sich. Und seine Freude verfolgt keinen Zweck mehr.“
„Die Freude an dem, was am richtigen Platz ist, was nicht verlorengeht, was auf die richtige Weise gehandhabt wird und nicht verschwendet, die Freude an dem, was gelingt, ohne ein anderes am Gelingen zu hindern, ist, so sieht er das, in Wahrheit die Freude an einer Ordnung, die nicht von ihm errichtet, sondern von ihm nur gefunden werden muss, die außer ihm liegt, und ihn gerade deshalb verbindet mit dem, was wächst, fliegt oder gleitet, ihn dafür zwar von manchen Menschen entfernt, aber das ist ihm gleich.“
„Was war eigentlich bevor Luther kam, an der Stelle der Seele, an der sich seither das schlechte Gewissen breitgemacht hat?“
„Aus dem Käfig der freien Entscheidung käme er ja dennoch niemals hinaus. Eingesperrt in den Luxus, wählen zu können, wäre sein Nachessen um nichts weniger kapriziös als die Völlerei.“
„Dort, wo das eine Leben eines Menschen an das andere Leben desselben Menschen grenzt, muss doch der Übergang sichtbar werden, der, wenn man genau hinschaut, selbst eigentlich nichts ist.“
„Ostzeiten, als Wort ein interessantes Konstrukt: Zeit, die nach einer Himmelsrichtung benannt ist. Jetzt ist Westen, jederzeit und in jeder Himmelsrichtung der Stadt und des Landes.“
„Aus Angst kommt Ordnung, denkt er. Aus Verunsicherung und aus Vorsicht.“
„Sobald aber nur noch Gesetze über die Landesgrenzen bestimmen, verschwimmt die Eindeutigkeit, der eine antwortet gleichsam auf eine Frage, die der andere gar nicht gestellt hat, und der zweite wiederum spricht über alles, nur nicht über das, was der erste herausfinden will. Das Gesetz verlagert sich tatsächlich von der physischen Wirklichkeit ins Reich der Sprache. Der Fremdling nun, der in keinem von diesen Ländern zu Haus ist, gerät zwischen die unsichtbar gewordenen Fronten, in eine innereuropäische Diskussion, die mit ihm und dem wirklichen Krieg, den er hinter sich lassen will, nicht das geringste zu tun hat.“
„Wenn es aber nicht ihr eigenes Verdienst war, dass es ihnen so gut ging, war es andererseits auch nicht die Schuld der Flüchtlinge, dass es denen so schlecht ging. Ebenso könnte es umgekehrt sein. Einen Moment lang reißt der Gedanke sein Maul weit auf und zeigt seine grässlichen Zähne.“
„Wie oft wohl muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder entdecken, wie viele Verkleidungen abreißen, bis er die Dinge wirklich versteht bis auf die Knochen?“
„Tausende von Jahren dauert die Bewegung der Menschen über die Kontinente schon an, und niemals hat es Stillstand gegeben. Es gab Handel, Kriege, Vertreibungen, auf der Suche nach Wasser und Nahrung sind die Menschen oft dem Vieh, das sie besaßen, gefolgt, es gab Flucht vor Dürren und Plagen, Suche nach Gold, Salz oder Eisen, oder es konnte dem Glauben an den eigenen Gott nur in der Diaspora die Treue gehalten werden, es gab Verfall, Verwandlung, Wiederaufbau und Siedler, es gab bessere oder schlechtere Wege, niemals aber Stillstand.“
„Den Unterschied zwischen den Flüchtlingen, die heutzutage auf dem Meer irgendwo zwischen Afrika und Europa ertrinken, und denen, die nicht ertrinken, macht allein der Zufall. In diesem Sinne ist auch jeder von den afrikanischen Flüchtlingen hier, denkt Richard, gleichzeitig ein Lebendiger und ein Toter.“
„Was alle mag da wohl noch im Dunkel seines Gedächtnisse warten, aber nie wieder aus der Abstellkammer hervorgeholt werden, bevor der Laden irgendwann endgültig zugemacht wird?“
„Und dann steht der atheistische Richard, der eine evangelische Mutter gehabt hat, mit seinem muslimischen Gast vor dem illuminierten, heidnischen Weihnachtsbaum,…“
„Waren auch die beiden Gruppen von Menschen, die sich hier gegenüberstanden, so etwas wie die zwei Hälften eines Universums, die eigentlich zusammengehörten, und deren Trennung dennoch unüberwindlich war? War der Graben zwischen ihnen tatsächlich bodenlos tief und entfesselte deshalb so heftige Turbulenzen? Und verlief er zwischen Schwarz und Weiß? Oder zwischen Arm und Rich? Oder zwischen Fremd und Freund? Oder zwischen denen, deren Väter nicht mehr am Leben waren, und denen, deren Väter noch lebten? Oder zwischen denen mit geringelten Haaren und denen mit galten? Oder zwischen denen, die ihr Essen Fufu nannten, und denen, die Gulasch dazu sagten? Oder zwischen denen, die gern gelbe, rote und grüne T-Shirts anzogen, und denen, die sich lieber einen Schlips umbanden? Oder zwischen denen, die gern Wasser tranken, und jenen, die Bier lieber mochten? Oder zwischen der einen Sprache und der anderen? Wieviele Grenzen gab es überhaupt in einem, einzigen Universum? Anders gefragt, was war die wirkliche, eine, entscheidende Grenze? Vielleicht die zwischen tot und lebendig? Die zwischen Sternenhimmel und dem Klumpen Erde, auf dem er täglich herumlief? Zwischen dem einen Tag und dem anderen? Oder die zwischen Fröschen und Vögeln? zwischen Wasser und Erde? Zwischen Luft, in der man Musik hörte,und Luft ohne Musik? Zwischen dem Schwarz eines Schattens und einem Drillkohle-Schwarz? Zwischen dreiblättrigem und vierblättrigem Klee? Zwischen Fell und Schuppen? Oder millionenmal zwischen innen und außen, wenn man jeweils einen einzigen menschen oder ein einziges Tier oder eine einzige Pflanze als ein Universum ansah? Richard vertrug sich mit seinen Organen, hatte seinen Frieden gemacht mit dem rohen Fleisch in seinem Innern, das ihn am Leben hielt, ihn, mitsamt seiner Gedanken über Helenas Schönheit oder über die beste Art, eine Zwiebel zu schneiden.“
„Richard weiß, dass er zu den wenigen Menschen auf dieser Welt gehört, die sich die Wirklichkeit, in der sie mitspielen wollen, aussuchen können.“
„Ihnen das Arbeiten zu verbieten und ihnen gleichzeitig Untätigkeit vorzuwerfen, ist, findet Richard, rein gedanklich eine gewagte Konstruktion.“
„Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?“
„Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?“
Ein Gedanke zu “GEHEN, GING, GEGANGEN”
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