LIEBE WAR IN UNSERER FAMILIE NIE

Liebe war in unserer Familie nie eine Selbstverständlichkeit.
Man konnte nie davon ausgehen, dass sie einfach da ist.
Manchmal an guten Tagen, an denen es keinen Streit gab, keiner 
Kopfschmerzen hatte oder gestreßt von der Arbeit war, an jenen 
guten Tagen, da schien die Sonne.
Wie hab ich sie aufgesogen, die Liebe, die dann da war.
Aufgesogen mit dem Gefühl: Nimm, nimm soviel du kannst davon, 
es bleibt nicht lang.
Man konnte sich Liebe auch verdienen - wenn man adrett aussah, 
gehorchte, eine gute Zensur nach Hause brachte, verständig war.
Aber nie, meine ganze Kindheit über, nie wurde Liebe einfach so 
gegeben als das Normalste der Welt, das von den Eltern zum Kind 
übergeht.
So viele unterschwellige Emotionen, die nie ans Tageslicht gelassen 
wurden oder wenn, dann nur als Vulkanausbruch in heftigster Gestalt,
um dann wieder zu flüchten davor.
Und ich nahm sie alle wahr.
All die Schwingungen und Stimmungen in euch und zwischen euch -
so mannigfaltig und so im Verborgenen, versteckt aus Angst.
Ich sehe mich durch den langen Flur streichen, an euren geschlossenen
oder halbgeöffneten Türen vorbei und spüre euch so stark dabei, 
spüre, wie ihr verwickelt seid mit euch allein und zusammen.
Und ich habe das Gefühl, ich könnte verschwinden und es wäre egal.
Es gab keinen Boden, keinen Halt, keine Geborgenheit, keine
Selbstverständlichkeit.
Es gab das Glück des Augenblicks, es gab bitter schmeckendes Lob 
und Anerkennung - sonst nur die größte Einsamkeit, die man sich 
denken kann.

Irgendwie haben wir überlebt. 
Jeder auf seine Art. 
Jeder mit seinen Wunden.
Und wir wurden aus einem kalten Nichts entlassen in ein Nichts, 
dass wir nun selber füllen müssen.

Mit was, frage ich, woher?
Wie kann Liebe für uns jemals zu etwas Selbstverständlichem, etwas 
Freiem werden?
Was können wir unseren Kindern sein?
Mit was füllen wir das Nichts?

4 Gedanken zu “LIEBE WAR IN UNSERER FAMILIE NIE

  1. Wenn du diese Liebe, dies große Bedürfnis nach selbstverständlicher Liebe, als Kind in glücklichen Momenten gespürt hast – und wie ich lese, war es so – , dann bist du nicht von der Quelle abgeschnitten, dann kann die Liebe in deinem Herzen ohne weiteres fließen und überfließen zu deinen Kindern, Freunden, Partnern. Dann hast du kein Liebesproblem. Lass es einfach fließen und denk nicht an vergangenes Leid.

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  2. „Es gab keinen Boden, keinen Halt, keine Geborgenheit, keine Selbstverständlichkeit.“ Da läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.
    „Was können wir unseren Kindern sein?
    Mit was füllen wir das Nichts?“
    Kinder können nichts dafür, was ihre Eltern so alles erlebt haben. Sie sind auf sie angewiesen. Immer und in jeder Form.
    So habe ich Deinen Text verstanden und das finde ich grandios! Danke.

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