Wolfgang Herrndorf: Bilder deiner großen Liebe 

„Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert. Weil das viele Leute denken, dass die superkomplett bescheuert sind, die Verrückten, nur weil sie komisch rumlaufen und schreien und auf den Gehweg kacken und was nicht alles. Und das ist ja auch so. Aber so fühlt es sich nicht an, jedenfalls nicht von innen, jedenfalls nicht immer.“

„Das Grab ist ungepflegt, vertrocknetes Zeug liegt da. Aber es steht auch ein ausgebranntes Grablicht daneben. Fünfundzwanzig Jahre. Er hätte mein Bruder sein können. Ich rechne nach, ob er noch leben könnte heute. Er könnte. Das kegelt mich kurz aus der Spur. Aber er wäre jetzt zweiundneunzig. Was bedeutet, dass er eh bald stirbt. Oder gerade gestorben ist. Vielleicht sogar in dieser Minute. Ich sehe über die Straße auf die grauen Häuser am Markt. Ich sehe Fenster mit versifften Gardinen und Meisenknödel davor und stelle mir vor, hinter einem dieser Fenster liegt Daniel Franz und ist zweiundneunzig. Und hat noch fünf Minuten zu leben. Noch fünf Minuten, um seinen Meisenknödelblick zu genießen. Was hat er dann davon gehabt, nicht im Krieg geblieben zu sein wie alle anderen? Was macht es für einen Unterschied, vor siebzig Jahren gestorben zu sein oder vor siebzig Sekunden? Keinen. Die fünf Minuten sind längst vorbei. Aber dass es da keinen Unterschied gibt, kommt mir seltsam vor. Obwohl es so ist. Außer die Zeit macht einen Unterschied. Aber das stimmt nicht, denke ich, und ich denke, dass das falsch ist, was ich denke, und dann denke ich, es ist richtig, und dann denke ich, dass mein Denken falsch ist und immer falsch gewesen ist, und ich schreie.“

„Er geht vor dem Kühler auf meine Seite herum. Dann klettert er über die Leitplanke. Er sucht sich umständlich einen Platz in den Büschen, trampelt die Brennnesseln platt und öffnet seinen Gürtel. Er guckt sich nach rechts und links um, ob ihn keiner sieht. Ich steige auch aus. Ich lehne mich mit dem Rücken an den Laster und verschränke die Amre. Da höre ich neben mir erst ein leises Schnaufen, dann unmenschliches Grunzen. Mit erhobenen Fäuste fahre ich herum und sehe direkt in zwei blaue Augen mit blonden Wimpern. Die Augen eines Schweins. Nur ein paar Zentimeter und ein Drahtgitter liegen zwischen unseren Gesichtern. Über dem Schwein noch ein Schwein, daneben auch. Der ganze Laster ist von oben bis unten mit Käfigen bepackt. Die Tiere sehen erbärmlich aus. „Die Schweine brauchen Wasser“, rufe ich und schaue zu dem pinkelnden Mann. Er pinkelt allerdings gar nicht. „Da bleib stehen“, sagt er mit Blick über die Schulter. Ich bleibe tatsächlich eine Sekunde stehen. „Du siehst so geil aus“,schnauft er, „du siehst einfach nur geil aus, oh mein Gott, siehst du geil aus, einfach geil, wie geil-“ „Soll ich auch was machen?“ Er erstarrt eine Sekunde. „Ja, die Klappe halten!“ Ich schaue unter den Laster nach einem Wasserbehälter. Da ist ein großer runder Tank, aber der Deckel ist verschlossen. „Oh mein Gott, ist das geil! Was für ein kleiner geiler Hintern!“ Er legt den Kopf schräg in den Nacken ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich hole den Kaffeewasserkanister aus der Fahrerkabine. „Jajaja, das sieht so geil aus!“, schreit er. Erst weiß ich nicht, wie ich das Wasser durch die Gitter in die Käfige flößen soll. Dann entdecke ich, dass man die Luken an der Seite aufhaken kann. Ich hole den Kaffeebecher des Fahrers, fülle Wasser ein und gebe dem ersten Schwein Wasser. Es trinkt gierig und sieht mich dankbar an. Der Reihe nach hake ich alle Käfige auf, tränke alle Tiere und höre Beschreibungen meines Aussehens. Es dreht sich zunehmend um meinen Hintern. Im letzten Käfig liegt ein sehr großes Schwein fast wie tot.ich kraule seine Wange. Es blinzelt träge, entdeckt das Wasser und stürzt sich dann so ungestüm darauf, dass es mir zuerst den Becher entgegenstößt und anschließend gleich halb aus dem Käfig raushängt. Ich versuche es, mit beiden Armen zurückzudrücken, aber es gerät in Panik und fällt auf mich herunter. „Oh mein Gott, ist das geil, ist das geil!“, schnauft der Mann. Ich habe das Schwein am Hals gepackt und versuche es, irgendwie zurückzuschieben. „Jajaja, das ist so geil, ist das geil. Mach weiter! Du siehst so geil aus. Was für ein kleiner geiler Hintern. Oh mein Gott, oh mein Gott, ist das geil, ja, das ist so …“ schnauft er. Sein Kopf fällt in den Nacken. Als er mich wieder ansieht, hängt ein Spuckefaden zwischen seinen offenen Lippen.“

„Die Geschichte der verrückten, hellsichtigen Isa: Wolfgang Herrndorfs unvollendeter letzter Roman.“


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