Dass die Mitbewohnerinnen keine voll ausgewachsenen Menschen sind, hat der aufmerksame Leser dieses Blogs vielleicht erraten.
Am Freitag ist eine dieser Mitbewohnerinnen (13), für drei Stunden verschwunden. Was sich wie eine kurze Zeitspanne anhört, war währenddessen unerträglich lang.
Halb zehn erhalte ich auf der Arbeit den Anruf, dass sie nicht in der Schule ist. Alle Versuche, sie zu erreichen scheitern. Da kein normaler Schultag ist und die Deadline für Anwesenheit halb elf ist, hält sich meine Aufregung in Grenzen. Halb elf ein erneuter Anruf: Sie ist immer noch nicht da. Die Schule verständigt die Polizei. Als wäre das ihr Stichwort sind Sorge und Angst da und fressen mich innerlich auf.
Ich fahre heulend und verzweifelt durch die Stadt und suche Orte auf, an denen sie sein könnte, immer gerne war.
In meinem Kopf spielt sich ein Kopfkino vom Feinsten ab. Sie liegt irgendwo nach einem Unfall und Fahrerflucht oder jemand hat sie mitgenommen und tut ihr weh. Ich wünsche solche Gedanken, Empfindungen und Ängste wirklich niemanden.
Letztendlich finden wir uns im Haus des Vaters ein und ich telefoniere Nonstop mit Familie, Lehrerin, Freunden und Polizei.
Alles deutet darauf hin, dass sie freiwillig gegangen ist und dank neuester Technik und aktiver Freundinnen wissen wir, dass sie in Potsdam ist. Warum? Es bleibt ein Fragezeichen und die Sorge hält an.
Schließlich gegen ein Uhr der Anruf einer Potsdamer Polizeiwache. Sie ist da, wir sollen sie abholen.
Während all dieser schlimmen Ängste und Sorgen klopft ein Gedanke an mein Hirn und mein Herz: Es sterben jeden Tag so viele Menschen – so viele Mütter haben Angst um ihre Kinder, weil sie krankwerden, verhungern, im Krieg leben müssen. Jeden Tag und jeden Augenblick. Du lebst dein Leben und genießt und zack – jetzt sitzt du hier und flehst das Schicksal an, diesen Kelch an dir vorübergehen zu lassen. Mit welchem Recht? Wäre ihr etwas passiert, wäre sie nur eine von vielen – das ist das Schlimme in dieser Welt: Es ist völlig normal, dass Kinder leiden und sterben und dennoch leben wir einfach unser Leben weiter, als würde uns das nichts angehen.
Als ich meine Tochter in den Arm nehmen kann, bin ich dankbar, so unendlich dankbar. Aber dieser Moment, als ich mich verbunden fühlte mit all den Müttern, die so etwas erlebt haben, erleben müssen, der bleibt.
Ganz abgesehen davon, dass Körper und Seele noch immer diese wahnsinnigen Angst verarbeiten.
Ich will dieses Mitleid – nicht herablassendes sondern mitfühlendes Mitleid – nicht mehr verlieren! Ich will nicht schweigen, wenn ich Menschen rede höre darüber, dass die doch alle nach Deutschland kommen, weil sie hier alles bekommen, ohne etwas dafür tun zu müssen. Ich will nicht kalt und urteilend über Dinge reden, von denen ich nichts verstehe, solange ich mich nicht wirklich hineindenke und hineinfühle.
In all der Angst und in all der Sorge und dem Wahnsinn spürte ich, dass nicht Hass und Wut die Lösung sein werden, sondern dass es immer wieder die Liebe ist. Zu jedem Menschen hier auf der Erde. Ich weiß nicht, was der Mensch vor mir erlebt hat, was es mit ihm gemacht hat, wie er mit seinen Erlebnissen umgeht. Ich weiß nur, dass so ein Satz wie: Mir passiert so etwas nicht! – in unserer Welt keinen Gehalt mehr hat. Es kann dir alles passieren und dass, was aus der Angst heraushilft, ist Zusammenhalt und Verständnis. Wir Menschen dieser Erde gehören zusammen, sind unverbrüchlich mit einander verbunden.
Natürlich reden wir jetzt viel und natürlich gibt es angemessene Konsequenzen natürlich hat das Ganze eine Art Zäsur gesetzt, aber es ist gut ausgegangen. Und nach und nach legt sich auch der innere Sturm in mir. Ich hoffe, aber, dass ich die anderen Gedanke, die in all dem Wahnsinn da waren, nicht vergessen werde!
Ich hatte am Anfang des Textes echt ein bisschen Angst. Puh!
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Ja, die hatte ich bis zum Ende der Geschichte auch!!! Bin auch immer noch am verarbeiten !!!
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Ich kenne deine Angst, wie wohl alle Mütter sie kennen. Sie ist immer da, jede Sekunde kann sie aus der Seelentiefe aufgeweckt werden, egal wie alt das Kind ist. Durch die modernen Kontrollmöglichkeiten wird sie sogar noch schneller mobilisiert. „Warum meldet er sich nicht?“, „Warum antwortet sie nicht am Handy?“. Als ich in dem Alter deiner Tochter war, gab es zu Haus kein Telefon, und das war vielleicht ein Segen. Denn ich wollte mich durchaus nicht melden, wenn ich unterwegs war. Tja, ich kenne eben nicht nur die Angst der Mütter, sondern auch das Unabhängigkeitsstreben der Töchter.
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Ich habe mich auch direkt bei meiner Mutter entschuldigt für mein abhauen mit 14. mir war nicht klar, was das für meine Eltern bedeutet. Ich fand es nur nervig.
Ich denk, ich hab schon einen hohen Grad an vertrauen in Kind und Schicksal aber das war echt noch mal ne andere Hausnummer! Aber ich verstehe, was du meinst. Wir hätten auch kurz vorher anlässlich eines neuen Handys das Thema, ob wir auch über die iPhone suche verbunden sein wollen und ich es ablehnte, weil ich durchaus nicht immer wissen möchte, wo sie gerade ist. Es gibt dazu auch eine gute Black mirror folge!
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Der ganz normale Kopf-Kino-Wahnsinn jeder Mutter. Nein, sie wissen nicht was sie tun……alles Gute für euch, hoffe, es kommt nicht mehr allzu häufig vor, LG
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Danke! Ja, einmal reicht!!!
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Genau so ist es und gut, dass Sie wieder da ist …
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Ja!
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Ich hasse solche Tage an denen man nicht weiß was los ist. Das „Schlimme“ ist, das die halbflüggen Nesthocker gar nicht ahnen was sie anrichten. Fühl dich fest gedrückt!!!!!!
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Danke!
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